1906
Chescz, dzień dobry. Ich wohne in Warschau.
Hier wohnen viele Juden.
Meine Eltern haben mich Felka genannt. Sie sagen,
"so heißt ein Mädchen, das glücklich ist."
Ich bin auch glücklich. Meistens.
Am glücklichsten bin ich, wenn ich zeichne.
Dann vergesse ich die ganze Welt.
1909
Hallo, mein Name ist Felix. Heute habe ich Geburtstag.
Meine Eltern haben mir einen schönen Blechkasten
mit 36 Buntstiften geschenkt.
Die Stifte leuchten.
Wir leben in einem großen Haus. In Osnabrück.
1909
Meine Mutter schimpft mit mir: Ich soll in der Küche helfen.
Sie schimpft auch mit meinem Vater, weil ich keine
gute Tochter bin. Gute Töchter helfen in der Küche
und wollen alles lernen: Wie man kocht und wie man alles
für Schabbat vorbereitet. Mein Vater ist sanft und leise:
"Sie hat doch andere Gaben", sagt er. Meine Mutter lächelt und
dreht sich schnell weg. Aber ich habe es gesehen.
1910
Heute habe ich gehört, wie meine Eltern auf der Straße
geflüstert haben: "Philipp, du mußt dem Jungen sagen,
daß er die Leute nicht so anstarren darf. Das gehört
sich doch nicht." Und mein Vater hat zurückgeflüstert:
"Rahel, lass ihn gucken. Er sieht mehr als Du und ich.
Er merkt sich die Menschen für seine Stifte."
Das gefällt mir.
1911
Ich habe meine Eltern gefragt, was wir eigentlich sind.
Wir sind Juden, wir sind Polen und in Warschau herrschen die
Russen. Also? Und mein Vater hat es mir erklärt: "Wir werden
immer Juden sein, Felka, wir werden immer polnische
Juden sein, aber russische Untertanen, das werden wir
nicht immer sein. Aber das letzte darfst Du nirgendwo sagen,
nur mit uns zu Hause."
1911
Wir haben auch einen schönen Tannenbaum. Papa hat ihn
gekauft. Wilhelm von gegenüber hat mich auf der Straße
angebrüllt "Juden dürfen gar keinen Weihnachtsbaum
haben, weil sie den Herrn Jesus umgebracht haben."
Mama sagt: "Halt Dich von dem Bengel fern, sein Vater
ist der größte Antisemit in unserer Straße." Vater brummt:
"Antisemit, ein Hornochse ist der, dumm und dunkel."
1912
Flugs aus der Wohnung unter uns packen alles ein.
Kisten und Körbe. Sie gehen übers Meer nach Amerika. Viele
Juden wollen nach Amerika. Warum, habe ich meine Mutter gefragt:
"Was ist anders in Amerika?" Dort sollen alle Menschen gleich
und frei sein und es soll keinen Haß unter den Menschen geben,
hat meine Mutter erklärt. Auch kein Haß gegen uns? Nein, Felka,
auch kein Haß gegen uns. Aber ich finde Warschau schön.
Ich will nicht weg.
1912
Abends wenn Vater aus dem Geschäft nach Hause kommt,
will er erst die Schulaufgaben von meinem Bruder und
mir sehen und dann, was ich tagsüber gezeichnet habe.
Er lobt mich und er erklärt, was ihm nicht gefällt.
Später holt er das große Buch aus dem Regal: "Schau Felix,
van Gogh, er ist der Gipfel. Da mußt du immer wieder
hinaufklettern, wenn Du wirklich ein Maler werden willst.
Immer wieder versuchen!" Ab jetzt darf ich mir das Buch selber holen.
11. Oktober 1913
So, jetzt habe ich es Papa und Mama gesagt: Ich will
Malerin werden. Zum ersten Mal habe ich es ausgesprochen.
Papa lächelt traurig: "Mädchen studieren nicht, Felka.
Nicht in dieser Welt und nicht in dieser Zeit."
Mama schüttelt nur mit dem Kopf und ist wütend über
Papa: "Du setzt ihr all diese Flausen in den Kopf" und
zu mir sagt sie: "Malerei, brotlose Kunst, davon wird
niemand satt und eine Familie schon gar nicht." Aber ich will
Malerin werden. Ich werde weggehen und ich werde Malerin sein.
11. Oktober 1913
Heute waren wir alle zu Jom Kippur in der Synagoge.
Papa hat uns ganz fest an der Hand gehalten als der Kantor
gesungen hat. Ich muß immer an den Kantor denken.
Sein Gesicht ist mit mir nach Hause gegangen. Der
Kantor heißt Elias. Papa sagt Elias
war ein Prophet, der mit einem Feuerwagen direkt
in den Himmel gefahren ist. Deswegen werden bis heute die
Lokomotiven feuriger Elias genannt. Und Elias erinnert uns daran,
daß wir immer treue Juden sein sollen.
29. Juni 1914
Die Stadt ist nervös. Ich höre die Menschen auf den
Straßen flüstern: "Bald geht es den Russen an den Kragen."
Gestern haben sie in Sarajevo den österreichischen
Thronfolger und seine Frau erschossen. Papa sagt:
"Die Welt schüttelt sich, es wird nichts Gutes dabei
herauskommen. Das waren die beiden ersten Toten."
Mama umarmt Papa:
"Hauptsache wir sind alle zusammen."
29. Juni 1914
Papa erzählt uns, daß feige serbische Attentäter den
österreichischen Thronfolger und seine Frau aus dem Hinterhalt
ermordet haben. Beim Abendessen spricht er viel über den Krieg:
"Deutschland muß seinen Verbündeten helfen und seine Ehre
verteidigen. Jetzt stehen auch wir deutschen Juden fest
zu unserem Kaiser und zu unserem Vaterland. Jetzt gibt es keine
Unterschiede mehr, jeder muß an seinem Platz seinen Mann stehen,
wenn das Vaterland ruft. Auch Ihr, Kinder." Mama sagt nichts.
5. August 1915
Seit Tagen haben sich die Russen aus Warschau und aus
Polen zurückgezogen. Wir hörten das Sprengen der
Brücken. Vieles ist zerstört. Trotzdem freuen sich
die Menschen. Heute sind die Deutschen auf ihren Pferden
in Warschau eingeritten. Ich stand an der Straße: Die
Pferde waren sehr müde. Es ist immer noch Krieg.
Tausende Soldaten sollen im Westen sterben.
Vater hat gesagt, daß viele von den Soldaten
nur ein, zwei Jahre älter sind als ich.
6. August 1915
"So sind wir", ruft Papa, als er aus dem Geschäft kommt.
Hurra! Gestern hat unsere Kavallerie Warschau genommen.
Der deutsche Soldat und das deutsche Pferd: Für den
Kaiser und Hindenburg. Und alle Deutschen in Treue fest.
Und mir hat er auf die Schulter geklopft und gefragt:
"Kannst Du eigentlich Pferde malen, Felix? Mal Pferde,
sie haben es verdient." Mama hat mit dem Kopf geschüttelt.
1917
Ich habe mit meinen Eltern gestritten: Juden sind
rechtlos, nur sterben dürfen wir in den Kriegen – egal
auf welcher Seite. Warum kämpfen wir nicht für uns,
für unsere Rechte? Vater redet und redet, aber er
kämpft nie. Er liest, arbeitet und schläft. Und Mutter
liest oder singt in der Küche. Nie ändert sich etwas.
Der Krieg ist im 4. Jahr. Die Deutschen herrschen in
Warschau, als seien sie schon immer hier gewesen.
1917
Auf dem Heimweg von der Schule bin ich am Gasthaus
„Germania“ vorbeigegangen. Da hat ein Mann die Tür
aufgerissen und gebrüllt: „Das ist der Sohn vom
reichen Nussbaum. Hau ab, Du Judenbengel oder ich mach
dir Beine.“ Ich bin nach Hause gerannt und ich habe
geweint. Aber vor unserer Tür habe ich mir das Gesicht
abgewischt. „Es ist Krieg und wir müssen alle
tapfer sein,“ sagt Papa.
März 1918
Die Deutschen und die Russen haben einen Waffenstillstand geschlossen.
Der Krieg scheint weit weg und ist mir doch ganz nah. Er frißt alles.
Es ist nur noch traurig - und entsetzlich. "Was wird daraus noch werden?"
Ein Satz aus meiner Lieblingserzählung von Boleslaw Prus. Ich habe Prus
oft auf der Nowy Swiat Straße beobachtet, wenn er spazieren ging.
Heute werde ich ihn aus der Erinnerung zeichnen: Prus hat nie einen
Spazierstock benutzt. Ein alter Mann mit auf dem Rücken verschränkten Händen.
Seine Augen leuchteten weit.
Meine Lieblingserzählung heißt "Die Welle strömt zurück".
In Rußland gibt es auch keinen Zaren mehr. Die Bolschewiken haben ihn getötet.
Januar 1918
Dauernd essen wir Rüben. Alle in meiner Klasse haben Hunger.
Die Erwachsenen haben Angst vor dem, was kommt: Auch die Lehrer
brüllen leiser. Der Krieg im Westen muß furchtbar sein.
Ich habe Mutter gefragt, ob wir vielleicht in diesem Sommer nach
Ostende fahren. Sie war ungehalten: "Frag nicht so dumm, im Krieg
verreist man nicht. Man bleibt zu Hause. Ostende ist Feindesland."
Der älteste Bruder von Fritz aus der Parallelklasse ist in Frankreich
gefallen. Fritz hat in der Pause heimlich auf dem Schulhof geweint. Der
Hausmeister hat ihn gesehen und ihm eine Ohrfeige gegeben:
"Stolz mußt du sein, du feige Memme."
26. Juni 1919
Neue Zeiten, ein neues Parlament und eine neue Verfassung wird es auch geben:
Polen ist eine unabhängige Republik. Marschall Pilsudski ist ihr Schöpfer. Ein
gewaltiger Schnauzbart und eine sehr hohe Stirn. So sieht die Macht aus.
Die Menschen liegen ihm zu Füßen. Sie verehren ihn voller Dankbarkeit. Die
Nachbarn tuscheln, daß es im Land weiter Pogrome gegen uns Juden gibt.
Vater sagt: "Für uns bleibt der Boden heiß. Sie werden uns niemals als wahre
Polen anerkennen." Menschen in Amerika haben gegen die Pogrome protestiert.
Jetzt soll Polen einen Minderheitenschutzvertrag unterschreiben. Ich habe
vor dem Spiegel in meinem Zimmer ein Selbstporträt gezeichnet und darunter
geschrieben: "Geschützte Minderheit-bitte am Leben Lassen" Aber niemand lacht.
September 1919
Alles ist jetzt ganz anders. Wir sind eine Republik. Der Kaiser hat schon
lange abgedankt. Vater ist nicht begeistert: "Wir wußten, was wir hatten.
Die Neuen müssen erst mal beweisen, daß sie es können. Zu viel Rumgequatsche, zu
viel Plebs -und dafür hat man im Felde gestanden." Mutter sagt, er soll abwarten,
das seien doch auch anständige Leute. Und in der Firma soll er bloß schweigen
mit seinen Launen: "Du bringst doch nur die Angestellten gegen uns auf. Es reicht,
wenn du in deinem Kavallerieverein das große Wort führst." Ich möchte gern
in den Schachverein. Im Hotel Hohenzollern hat sich einer gegründet. Eva hat mich
gefragt, ob sie auch Mädchen aufnehmen.
Dann könnten wir doch zusammen hingehen.
1921
Warschau wird eng. Die Eltern wollen, daß ich bleibe, wo
ich bin, wie ich bin und was ich bin: Ihre Tochter. Ich
aber bin 22 Jahre alt, erwachsen und ich will gehen, sehen
und lernen: Um zu malen zu malen und zu malen. Das wird hier
in dieser Watte niemals möglich sein. Gestern habe ich
Bilder von einer Paula Modersohn Becker gesehen. Sie hat
in einem Verein Berliner Künstlerinnen mit anderen Frauen
gezeichnet. So stand es in dem Artikel. Interessant.
Berlin ist nicht wirklich weit weg. Kein Meer zwischen Warschau
und Berlin. Für Mutter und Vater wenigstens ein beruhigender Gedanke.
1921
Osnabrück wird eng. Ich will anfangen. Nicht immer
nur als "das Talent" zu Hause hocken. Utrillo war
auch siebzehn, als ermit der Malerei begonnen hat:
Als eigene Persönlichkeit. Dazu dauernd die
Diskussionen über Berlin. Berlin ist den Eltern,
besonders Mutter,zu schrill, zu verführerisch und
zu weit weg. "Hamburg hat doch auch seine Möglichkeiten",
sagt Vater. Na gut, Hamburg liegt auf dem Wegnach Berlin.
Wir werden sehen.
1922
Das hat noch gefehlt: In Berlin haben sie Außenminister
Rathenau ermordet. "Ein Jude", sagt Mutter mit
vorwurfsvollen Augen und empörtem Ton in meine Richtung.
"Und da zieht es dich hin? Ich werde vor Sorge vergehen.
Meine Tochter allein in diesem Moloch." Ich bemühe
mich, nicht hinzuhören. Jeder Tag in Warschau hat
mindestens 48 Stunden. Aber ich muß
meine Augen offenhalten: Sehen, malen, malen.
Alles ist Vorbereitung für den Beginn.
1922
Gott sei Dank: Adieu Osnabrück. Am Schluß nur Spannungen:
Abitur, kein Abitur- "Schon in der Schule keine Disziplin -
wie soll das erst gehen, wenn du in der Fremde alleine
auf dich gestellt bist?" Es war nicht mehr auszuhalten. Also
Hamburg. Die Kunstgewerbeschule ist erst einmal imposant:
Ein riesiges Monumentalgemälde von Willy von Beckerath:
Die ewige Welle. Alles beginnt, endet, und beginnt:
Ich beginne jetzt. Ihr werdet es schon sehen mit der Disziplin:
Der Maler Felix Nussbaum.
Berlin, den 27. September 1923
"Sehr geehrtes Fräulein Platek! Ihre beigefügten
zeichnerischen Arbeiten haben uns ganz gewonnen.
Wenn Sie Sich denn entschließen könnten, nach Berlin
überzusiedeln, wären Sie an der Lewin-Funcke Schule
zur weiteren Förderung Ihrer Begabung und zur Begegnung
mit Gleichgesinnten herzlich willkommen." Ein Brief aus
Berlin. Er kam postlagernd. Die Eltern dürfen nichts wissen.
Noch nicht. Wer weiß wann... Ich hatte heimlich Zeichnungen
hingesandt: Dort studieren Frauen und Männer gemeinsam:
Als Künstler, die das Beste in sich finden wollen. Ich brauche Kritik,
andere Menschen, bald... ...Ich lese den Brief immer wieder.
1923
Am Wochenende fahre ich nach Hause: Es muß
Klarheit geschaffen werden. Vater wird es
verstehen, er muß es verstehen: In Hamburg die
Künste - die reichen Pfeffersäcke kaufen Bilder
für ihre Salons. Alle wollen entdeckt werden:
Rein in die Villen, ran an den Zaster. Da hängt man
an der Wand wie tot. Nichts atmet heftig, nichts
stürzt heraus ins Offene. Der Wind weht fort:
Es kann nur Berlin sein. Es muß Berlin sein.
1924
Nun ist alles entschieden und alles gesagt:
Mutter läuft mit verheultem Gesicht durch Warschau
und erzählt allen und jedem, daß ich sie und Vater
verlasse: Keine gute Tochter, die heiratet, nein,
ein undankbares und egoistisches Geschöpf. Sie sagt
es nicht, aber ich spüre, daß sie es so empfindet.
Vater ist traurig, sehr traurig, aber er will mein
Glück, so wie ich mein Glück will. Mutter will,
daß ich so bin und werde wie sie. Ich liebe beide
sehr. Auch ich bin traurig. Ich hasse diesen Abschied
aus ihrer und meiner Welt. In einer Woche reise ich nach Berlin.
1924
Berlin atmet hastig und laut. Jeder will
vom Leben abbeißen. Man kann den Kopf gar nicht
so schnell drehen, wie die Ohren wollen. Am
Abend sind die Augen übervoll. Und was male
ich? Ein Blumenstillleben. Und was spaziert
in meinem Kopf? Ein Selbstbildnis - als Junge
mit meiner geliebten Baskenmütze, ein Geschenk
der Eltern. Anfangs habe ich sie gehaßt, sie war
mir zu affig. Berlin: Ich laufe zu mir zurück:
Zum Festhalten.
1925
Berlin reißt mich mit jedem Tag weiter von
Warschau fort. Die Menschen an der Schule sind
mir nah und fern: Tagsüber ein ungeheurer Eifer,
kurze, tiefe Sätze im Gespräch. Alle wollen die
Welt in ihre Hände nehmen, die Kunst bestimmt ihr
Leben total und abends stürzen sie wie Freigelassene
in die Nacht, die hier in Berlin wie ein anderer
Kontinent leuchtet und lockt. Mein Lehrer heißt
Ludwig Meidner. Er malt und schreibt. Heute sagte
er zu mir: "Sie müssen das Gewohnte überwinden,
Fräulein Platek, wenn sie ein Haus mit Fenstern
malen, muss man aus den Fenstern hören,
was die Menschen sich drinnen erzählen,
wie sie schreien, weinen und lachen. Ihre Blicke
und ihre Bilder müssen durch die Wände gehen."
1925
Nachmittags, wenn ich mein Pensum und meine
Klassen an der Akademie hinter mir habe, besuche
ich manchmal die private Malschule des Malers
Lewin-Funcke in der Kantstraße. Männer und
Frauen arbeiten gemeinsam. Das ist eine ganz
eigene Atmossphäre. Lebendiger, mehr dem
Eigentlichen zugewandt, nicht so professoral und
offiziell. Und keine Konkurrenz: Alle verfolgen
und betrachten, was die anderen machen mit
Interesse und Offenheit. Keine Verdikte, die Daumen
oben. Kritik, die Mut macht. Ich sauge das alles in
mich hinein. Seit Wochen beobachte ich heimlich eine
junge Polin: Ihr Gesicht bei ihrer Arbeit - zutiefst
faszinierend. Ich weiß nicht einmal wie sie heißt.
1926
Ich bin nicht nach Berlin gekommen, um mich
zu verlieben. Hier gibt es einen, der ständig
zu mir her starrt. Gott sei Dank kommt er meist
nur nachmittags. Offenbar ein verwöhntes
Bürgersöhnchen, etwas aufgeblasen. "Aus gutem Hause"
nennen sie das hier. Aber mit der Malerei und
der Kunst soll es ihm ernst sein, sagen die
Kolleginnen und Kollegen. Er heißt auch noch
Felix. Hauptsache der Mensch läßt mich in Ruhe.
1926
Meine ganzen Erdentage und alle Bilder, die
jemals durch die Augen hindurch in meinen Kopf
spaziert sind, haben sich ebenfalls in Berlin
niedergelassen. Sie geben keine Ruhe: Ich
male Mutter, ich male Vater und auch Elias,
der Kantor der Synagoge in Osnabrück, ist
zurückgekommen und klopft an die Tür: Yom Kippur
mit den Eltern in der Synagoge, unvergessen und
unzertrennlich. Die ernste Polin heißt Felka.
Ein Kollege hat meine ständigen Blicke hin zu ihr bemerkt:
"Felix sucht Felka", seitdem in den Ateliers bei
Lewin Funcke ein geflügeltes Wort.
23. Mai 1927
Berlin taumelt im Lindbergh Fieber. Verzückt,
als seien sie alle dabeigewesen: Allein über
dem unendlichen Atlantik. Ich denke an Ikarus:
Sein neugieriger Blick ins Unendliche, in die
Tiefen, die Höhen des Alls. Selbstvergessen bis
zum Ende. Mein Blick auf die leere Leinwand:
Diese unendliche Angst der weißen Fläche nichts,
aber auch gar nichts hinzufügen zu können.
Fliegen gelingt nur selten, ist hart erarbeitet
und doch immer ein Geschenk. Und: Ich habe mich
breitschlagen lassen: Felix, der Starrende, hat
mich für heute Abend zum Essen eingeladen.
Sollen sie tuscheln. Der Mai...
23. Mai 1927
Der Mai: Ich feile an meinem Selbstbildnis
mit grünem Hut- selbstsicher, etwas verwegen,
etwas auf der Suche. Bevor ich mich endgültig
zum Narren gemacht hatte, habe ich sie
angesprochen und für heute Abend eingeladen:
Essen und dann Variete. Gott sei Dank kam
Vaters Scheck für Juni gerade zur rechten Zeit.
Langsam, Felix, langsam, sage ich den ganzen
Tag zu mir selbst: Nicht zu dick auftragen,
immer schön bescheiden: Sie hält mich sowieso
für ein verzogenes Bürschchen, das hat mir ein
Kollege zugeflüstert. Sie ist älter als ich:
Wie aufregend. Sie ist so ernst, so wunderbar,
so schön. Der Mai...
April 1928
Ich bin immer noch verliebt: Felix ist klug
und verzogen, zärtlich und eigensinnig. Er
rollt seine Welten und seine Geschichte vor
mir aus: Das mußt du kennenlernen, das mußt
doch wissen... Von mir, von Polen, von den
Juden in Polen weiß er fast nichts: Er
staunt mich an und fällt mir ins Wort,
wenn ich zu lange darüber spreche. Ich soll
seine Eltern kennenlernen. Das scheint mir
kein guter Gedanke. Noch nicht. Wir beide
malen wie verzaubert. "Da kommen die Schwebenden",
sagen sie im Atelier. Wir lächeln.
April 1928
Vater hat angerufen. Er brüllt ins Telefon:
"Hipp Hipp Hurra, wir können es auch.": Die
erste Atlantiküberquerung mit dem Flugzeug
von Ost nach West. "Na siehste, mein Junge,
Deutschland ist wieder da." Unverbesserlich,
der alte Knabe. Felka ist wunderbar, so fremd,
so ganz anders. Wir lieben uns, wir reden und
reden. Sie will alles über mich wissen. Ich
arbeite mit ganz neuem Schwung, alles bricht
aus den letzten Jahren hervor: Landschaften,
Reisen, Menschen. Felka, die Zauberin.
1929
Viel Arbeit in Felix neuem Atelier. Schön
nahe des Kurfürstendamm gelegen. Wieder
ein großer Schritt für ihn. Und für mich?
Manchmal befürchte ich, daß ich mich zu
sehr auf seine Welt einlasse und die meine
zu klein wird. In diesen Tagen sehe ich
Berlin mit neuen Augen: Der Haß gegen die
Juden wird lauter und alltäglicher. Die
Eltern planten einen Besuch: Ich habe
ihnen abgeraten. Es werden auch leisere
Zeiten kommen.
1929
Auf in die Welt der Nibelungen: Ich habe ein
Atelier in der Xantener Straße gemietet.
Das wird den Eltern gefallen: Schöne
deutsche Adresse, Drachen inclusive. Heute
sehen die Drachen allerdings aus wie Zeitungen:
Seit Januar kann man auch in Berlin den Völkischen
Beobachter kaufen, in dem Herr Hitler und seine
Konsorten täglich ihr Feuer gegen uns speien.
Felka ist ängstlich und beunruhigt. Vater am
Telefon: "Hitler-ein Spuk, lächerlich."
August 1929
Felix ist fast närrisch wegen meiner
neuen Baskenmütze. Er malt mich auf der
Stelle. Und wieder geschieht das Wunder:
Als Mensch, als Mann weiß er immer noch
wenig von dem, was mich im Innersten
bewegt. Aber als Maler sieht er alles:
Wie unsicher ich bin, wie ich mich sperre
gegen die Kommode seiner Welt, wie ich
mir Mühe gebe, stark zu sein, auf Distanz
bedacht, wie traurig ich bin in der Fremde.
August 1929
Felka hat sich gestern eine weiße Baskenmütze
gekauft. Ich denke an meine Baskenmütze, die
ich als Kind so geliebt habe und porträtiere
Felka, wie sie der Welt gegenübersteht, ihr
entgegentritt - eine eigene Welt, ganz für sich.
1930
Die Deutschen bleiben mir fremd. Die
Straße bebt, Hungernde Bettler an vielen
Ecken. Aber viele -auch wir- leben und
tun als ob. Felix und ich -wir beschweigen
uns. Jedes offene Wort gälte uns als
Kapitulation vor unserer Angst. Ich spüre
die seine, er spürt die meine, wir halten
uns fest -schweigend. Ich male Blumen.
Was wird noch werden?
1930
Eigentlich sollte ich zufrieden sein. Das Atelier,
das Leben mit Felka, der Erfolg, die Anerkennung
- ich bin ein "bißchen" bekannt in Berlin. Wie
habe ich darauf gewartet. Aber über allem liegt
der Schatten des Elends so vieler angesichts der
Weltwirtschaftskrise und das Gebrüll der elenden
Nazis. Vater will nichts sehen, Felka verschließt
die Angst in ihrem Herzen, aber sie zittert an
jedem Tag. Ich male einen Pessimisten, die Sonne
verdunkelt, der Wind kommt auf und wird zum Orkan.
1931
Felix sucht seinen Platz. Er greift immer
mehr zu. Er macht große Fortschritte,
seine Welt weitet sich immens. Und doch
ist er immer zu Hause geblieben, während
ich wirklich ins Neue gegangen bin. Ob ich
dafür zu viel bezahlt habe, bezahle? Wer
weiß. Meine Malerei geht um mich herum.
Gestern blieb Felix vor meiner Staffelei
stehen. Sein Blick war erst neugierig,
hellwach. Fast alarmiert. Was wächst da?
Ich genoß es.
1931
Es ärgert mich immer mehr, wie die Malergreise
über uns die Nase rümpfen. Abschätzig und
hochmütig: Was sind sie doch für wunderbare
Vertreter der großen Künste: Mit Frack und
Zylinder -ohne Esprit, dunkel,dunkel. Aber ich
lache nur. Und male sie: Den Pariser Platz mit
der Akademie und dem ganzen Stumpfsinn. Obendrüber
trohnt Liebermann, das alte Schlachtroß: Aber der
hat wenigstens noch Feuer im Pinsel. Das muß
ich neidlos anerkennen.
1932
Felix der Launische. Statt sich über die
Anerkennung und ein Stipendium für Italien
zu freuen mault er im Atelier herum. Wie
selbstverständlich geht er davon aus, daß
ich mit ihm reise. Italien: Noch weiter
weg von den Eltern, von Warschau. Ich
denke oft an sie und habe Sehnsucht nach
ihnen. Und dennoch freue ich mich auf
Neues. Nie hätte ich gedacht, Italien zu
sehen, in Italien zu leben.
1932
Adieu Deutschland. Habe ein Stipendium für die
Villa Massimo in Rom erhalten. Italien
interessiert mich eigentlich schon längst
nicht mehr. Hoffentlich werde ich nicht
kitschig da unten. Felka geht mit. Sie freut
sich weit mehr als ich. Nun denn: Italien.
Das einzig Gute daran: Deutschland für eine gewisse
Zeit abzuschütteln. Hier kracht es immer lauter
im Gebälk.
Januar 1933
Felix- ein Schatten seiner selbst. Alle
unsere Bilder sind in Berlin verbrannt.
Die Wohnung wurde angezündet. Welcher
Haß. Was bleibt von unserm Leben?
Gut in Italien zu sein. Ich könnte
Deutschland nicht ertragen. Blauer,
weiter Himmel aber das Elend klebt an
unseren Schuhen. Ich tröste Felix, er
versinkt im Unglück.
Januar 1933
Ich bin wie zerstört. Das Atelier in Berlin
ist ausgebrannt. Wahrscheinlich Brandstiftung:
Brennt die Welt des Juden Nussbaum nieder! Alle
Bilder, die dort zurückgeblieben sind, vernichtet:
Mein Leben - ganz leer. Dazu die Nachrichten aus
der Heimat: Hitler ist Reichskanzler, er ist jetzt
Deutschland. Welch ein Elend. Ich habe Angst um
die Eltern, die diesem Haß nun noch direkter
ausgesetzt sind.
15. Mai 1933
Ich hatte so sehr gehofft es würde nichts
schlimmes mehr kommen: Heute wurde Felix
brutal von einem Kollegen in der Villa
Massimo niedergeprügelt. Ein neuer
Ausbruch des Hasses. Felix mußte ins
Krankenhaus gebracht und am Kopf genäht
werden. Er sieht entsetzlich zerschunden
aus, aber er ist ganz kalt : Er will
keine Polizei, kein Aufsehen, er
befürchtet negative Folgen für uns und
vor allem für seine Eltern, die in
Deutschland sind. Die Angst legt
sich auf uns, sie ist überall.
15. Mai 1933
Auseinandersetzung mit Merveldt. Der feine
Herr Graf schlägt zu bis ich am Boden liege
und blute. Deutscher Uradel, der dem Juden
seinen Platz zuweist. Ich habe über das, was
Vater immer noch Heimat nennt, keine Illusionen
mehr. Diese Villa ist auch Deutschland.
Siehe oben.
Januar 1934
Ein Brief von den Eltern: Ich denke an
die Januar-Kälte in Warschau, man kann
den Atem der Menschen sehen, wenn sie
durch die Straßen hasten, um schnell
nach Hause zu kommen. Den Eltern geht es
gut -oder sie schreiben nichts
gegenteiliges. Mir soll es auch gut gehen,
das wünschen sie. Geht es mir gut? Hier ist
die Kälte innerlich und man sieht den
eigenen Atem nicht.
Januar 1934
Nachdem man uns im vergangenen Mai aus
der Villa Massimo entfernt hatte, war ich
glücklich, auch dieser Drachenburg entkommen
zu sein. Jetzt Rapallo: Das Malen geht mir gut
von der Hand und ich bin eigentlich guten Mutes.
Nur der liebe, dumme Vater: Im Oktober hat ihn
sein Kavallerieverein ausgeschlossen. Er dachte
wirklich, er gehöre dazu. Jetzt schickt er mir
eine Art Liebes- und Abschiedsgedicht an seine
guten Kameraden, die ihn so schändlich behandelt
haben- nach 34 Jahren Mitgliedschaft.
Der alte Jude -auch entfernt.
Mai 1934
Felix Eltern in Rapallo eingetroffen.
Unter ihrem Unglück sind die Vorbehalte
gegen mich -zu alt, keine deutsche
Jüdin- zusammengefallen. Der Vater
schmal, gebeugt aber nicht gebrochen. Die
Mutter müde von der alltäglichen Lebensangst
und dem Haß daheim in Osnabrück. Wir
umsorgen sie. Ich bin froh, daß meine
Eltern in Polen geborgen sind. Was
geschieht mit den Deutschen, diesen ewigen
Vorzeigepuppen für Fortschritt, Kunst und Kultur?
Mai 1934
Die Eltern hier bei uns. Dem Himmel sei Dank.
Vater ist tapfer: Er will sich sein Leid,
seine tiefe Verletzung nicht anmerken lassen:
Diese Bande, das ist nicht Deutschland. Er
betont es immer wieder mit Ausrufezeichen.
Ja, es gibt auch anständige Deutsche. Ich
pflichte ihm bei, um ihn zu beruhigen. Wir
trinken die klare Luft der Adria, wir baden im
Licht. Aber wie wird es weitergehen
mit uns allen?
Juni 1935
Ostende, eine neue Sprache, ein neues
Land. Eine neue Heimat? Für Felix ist
vieles vertraut, umso tiefer empfindet er
den Unterschied zu unserer heutigen
Situation. Es ist schwer, sich gegenseitig
zu stützen, wenn der eigene Mut schmilzt,
wie Schnee in der Sonne. Trost finden wir
in der Arbeit. Doch wovon sollen wir leben?
Juni 1935
Und wieder Ostende. Die Kindheit. Die Ferien
mit der Familie. Erst jetzt verstehe ich, wie
unbeschwert wir damals waren, wie das Leben
mich verwöhnte. Heute bin ich auf der
Flucht, wir wechseln von Pension zu Pension.
Felka und ich haben ein Touristenvisum, aber
Touristen sind wir schon längst nicht mehr.
Wir sind Flüchtlinge, die nach Schutz und
Sicherheit suchen. Und wir malen dennoch.
1936
Immer wieder die Sorgen um die gültigen
Papiere, um das nötige Geld.
Ich werde jetzt versuchen "Gängiges" zu
malen, Blumen und andere schöne Dinge.
Bilder, die sich verkaufen lassen.
1936
Seit Tagen beobachte ich einen Scherenschleifer,
der mit seinem Wagen durch Ostende zieht.
Fast beneide ich ihn ob seiner Sicherheit:
Er ist zu Hause, er hat seinen Wagen, er
wird gebraucht von den Menschen. Felka und
ich - wir werden durch die Zeit geschliffen.
Ich stehe jetzt häufig vor dem Spiegel, Selbstporträts:
Wer bist du?
Oktober 1937
Wieder ein neues Kapitel: Brüssel, rue
Archimede. Die Eltern in Warschau und Osnabrück
werden sich an eine neue Adresse gewöhnen
müssen. Wir alle müssen uns an vieles gewöhnen
in diesen Jahren. Die Welt verdüstert sich immer
mehr. Felix hat mich gefragt, ob wir heiraten:
Er war immer gegen die Ehe. Jetzt dieser
Gesinnungswechsel: Muß ich mich
bei Hitler bedanken?
Oktober 1937
Die Deutschen in Spanien. Sie zerbomben
Guernica. Wann werden sie hier sein?
Hitler wird nach ganz Europa greifen, da
bin ich mir sicher. Krieg ist nur eine
Frage der Zeit. Der Krieg gegen die Juden
hat längst begonnen. Felka und ich werden
heiraten. Aus Angst. Um uns zu wehren.
Aus Liebe.
September 1938
Die Gier der Deutschen wächst. Erst hat der
Führer Österreich geschluckt, jetzt greift er
nach Prag. Er kommt Polen, er kommt den Eltern
in Warschau näher. Meine große Sorge ist, daß
auch sie in seine Hände fallen - wie die
Eltern von Felix in Osnabrück.
1938
Don Quichotte spukt mir im Kopf herum und
will in die Hände. Ich muß Farben kaufen.
Der ewige Kampf ums Geld. Das sind unsere
Windmühlen. Felka ist mein Sancho Pansa. Sie
umsorgt und leitet uns und hält viele
Widernisse des Alltags von mir fern.
27. Mai 1939
Gott sei Dank, die Eltern sind in Amsterdam
in Sicherheit. Vater hatte sich bis zum
letzten Tag gesträubt, Deutschland zu
verlassen: "Ich bin kein Deserteur, ich
werde niemals fahnenflüchtig. Ich bleibe
meinem Volke treu." Felka hat am Telefon auf
ihn eingeredet: "Aber es ist doch nur für eine
Weile. Bald ist der ganze Spuk vorbei und
ihr fahrt wieder nach Hause."
3.September 1939
Keine Verbindung zu den Eltern in Warschau.
Die Deutschen in Polen eingefallen. Der Krieg.
Ich bin sprachlos und panisch vor Angst. Sind
Mutter und Vater verloren? Wann wird Hitler
sich nach Westen wenden? Wo sind wir dann
sicher? Wohin? Felix versucht mich zu
trösten, aber beide wissen wir es besser.
Mai 1940
Hitler beginnt den Krieg im Westen.
Er greift nach uns. Wird Belgien standhalten
können oder ebenso überrannt werden wie
Polen vor wenigen Monaten? Ich male
gegen die Zeit.
Ende Mai 1940
Was für ein Hohn. Die belgische Polizei hat
den jüdischen Flüchtling Felix Nussbaum als
reichsdeutschen Bürger verhaftet, der für
Belgien eine Gefahr darstellt. Mir wurde
gesagt alle deutschen Männer werden in einem
Lager interniert. Wo das Lager ist- ich
weiß es nicht. Keine Nachricht, nicht von
den Eltern, von Felix. Ich bin allein.
Juli 1940
Zusammengepfercht hinter Stacheldraht.
Das Lager heißt Saint Cyprien. 18 Tage hat
man uns durch ganz Frankreich
hierher in den tiefen Süden getrieben.
Dreck, Ungeziefer, es stinkt nach Angst
und ungeheurer Hoffnungslosigkeit.
Einige beten in der Lagersynagoge. Ich
sehe sie hinwanken in ihren Gebetsmänteln.
Hört Gott zu? Hat meine Nachricht Felka
erreicht?
August 1940
Felix steht vor der Tür. Er hatte bei dem
französischen Lagerkommandanten einen
Antrag zur Rückführung ins Deutsche Reich
unterschrieben. In Bordeaux ist ihm die
Flucht gelungen. Er konnte sich nach Brüssel
durchschlagen: Tagsüber versteckt,
des Nachts marschiert. Seine Augen liegen
tief in ihren Höhlen, er ist ausgehungert
und sehr schwach.
August 1941
Ich stehe vor der Staffelei: Und sehe,
dass der Pinsel in meiner Hand zittert.
Ich zittere, weil wir ausgeliefert sind:
An die Angst, an die Grausamkeit,
an die Deutschen.
August 1941
Ich bin im Stacheldraht geblieben.
Die Deutschen engen unser Leben immer
mehr ein. Es wird gemunkelt, dass es im
Osten Lager gibt, wo sie uns alle hinbringen.
Noch lassen sie uns warten. Noch tragen
wir hier keinen Stern. Ich beobachte sie und
ich male: Als Zeuge ihrer Mörderzeit.
Felka ist sehr schwach.
August 1942
Erst im Mai der Stern, jetzt beginnen die
Deportationen in den Osten. Nach Polen?
Was machen sie dort mit den Menschen, mit
uns? Wann stehen wir auf der Liste? Wir werden
nicht gehen. Felix sucht für uns ein Versteck.
Es ist lebensgefährlich uns zu verstecken.
Wer wird diese Gefahr auf sich nehmen? Heute
früh sah ich auf der Straße einen Oleander in
voller Blüte. Ich trug den Stern nicht.
2. Dezember 1942
Im Versteck bei Ledel, dem Bildhauer, und
seiner Familie. Felka und ich leben mit ihnen.
Sie sind selbstverständlich und großzügig. Die
kleine Karin schaut mich an: Wer ist dieser neue
Onkel Felix? Ich bin Onkel Felix im Versteck, möchte
ich sagen und ihr alles erklären. Aber ich schweige.
Wie kann das Kind diese Welt verstehen? Ich zeichne
lieber Tiere für Karin und erzähle ihr: Onkel Felix
hat bald Geburtstag, dann laden wir alle Tiere auf
dem Bild ein. Als das Blatt voll ist, sagt die Kleine:
Du musst noch signieren. Und ich signiere.
März 1943
Ledels verlassen Brüssel und gehen in die
Ardennen: Dort sei es sicherer, der Krieg nicht
so nah. Sie beschwören uns, mitzukommen.
Felka aber will in jedem Falle in Brüssel
bleiben. "Auf dem Land werden wir
auffallen- wir gehören nicht dazu, jeder wird
uns anstarren." Ach, meine Felka, denke ich:
Wir gehören nirgendwo mehr dazu. Längst
nicht mehr. Wir werden die Freunde vermissen.
Die kleine Karin weint beim Abschied. Wir alle
weinen. Zum ersten Mal in diesem Elend.
Wann werden wir uns wiedersehen?
März 1943
Zurück im Atelier in der Rue Archimede.
Der Vermieter hat für uns ein zusätzliches
Versteck in einer Mansarde hergerichtet, so
daß wir bei Razzien oder Gefahren schnell aus
dem Atelier flüchten können und er eine leere
Wohnung vorweisen kann. Aber, er legt den
Zeigefinger an die Lippen, kein Wort zu
irgendjemandem, ganz leise! Und keine
Ölgemälde mehr: Der Terpentingeruch
könnte uns alle verraten.
April 1943
Wir zeichnen mit Bleistift, wir malen mit
Aquarellfarben. Kein Terpentin! Wir verlassen
das Atelier nur für das Allernötigste. Wir sehen
uns in der Küche um: Da ist der Schöpflöffel, da
steht die Gießkanne für unsere Blumen: Alle müssen
sie in die Bilder hinein. Wir sprechen kaum. Wir
bemühen uns, nicht zu flüstern. Wir wehren uns –
immer leiser werdend – gegen die Angst,
wir leben gegen die Zeit.
August 1943
Ich hielt es ohne das Malen mit Ölfarben nicht
mehr aus und habe mir schon im Juli ein anderes
Atelier in der Rue General Gatry gesucht: Anonym
und hoffentlich unsichtbar. Noch einmal will ich
alles berichten. Ich male mich mit dem Judenstern,
den ich nie getragen habe und niemals tragen werde.
Ich schaue den Mördern ins Gesicht. Felka
wartet jedes Mal zitternd auf meine Rückkehr.
Dienstag, 18. April 1944
Ich sitze im Dunkeln und warte auf Felix.
Ich habe das andere Atelier immer gehasst.
Jedesmal schüttelt mich die Angst, daß Felix auf
der Straße aufgegriffen wird und ich ihn nie
wiedersehe. Er öffnet die Wohnungstür und sagt
leise in die Dunkelheit: Heute- das war das
letzte Bild. Der Tod wird triumphieren.
Er sucht meine Hand.
20. Juni 1944
Sie trommeln an der Tür unseres Verstecks.
Jemand muß uns verraten haben. Nach Stalingrad
haben wir wirklich gehofft. Aber es sollte nicht
sein. Ich stütze Felka während ich die Tür öffne.
Sie sollen uns ins Gesicht sehen. Sie sollen
uns nie vergessen. Ich habe nur noch einen Wunsch:
Auch wenn wir untergehen -
lasst unsre Bilder nicht sterben.
1. August 1944
Im Güterwagen. Seit gestern rollt der Zug
Richtung Osten. Wir kauern im Stroh. Felix neben
mir. Die Kinder haben Durst und betteln um Wasser.
Es gibt kein Wasser mehr. Felix spricht leise mit
Herrn Goldberg. Ein kleiner, zarter Mann. Uhrmacher.
Immer wieder sucht sein Blick seinen Werkzeugkoffer.
"Uhrmacher werden überall gebraucht." Das ist sein
Trost. Aber gibt es noch Zeit für uns?
2. August 1944
Wir sind verschwitzt und zerdrückt. Seit Tagen
unterwegs. Wo führt diese entsetzliche Reise hin?
Es stinkt erbärmlich. Für die Alten und für die
Kinder ist es am schlimmsten. Manche sind tot.
Wir haben sie an die Seite geschoben. Felka hält
sich tapfer. Jetzt wird der Zug langsamer. Draußen
rufen und brüllen Menschen. Sie öffnen die Tür.
Das Licht tut in den Augen weh.
Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen.