Die ganze Geschichte





            1906  

      Chescz, dzień dobry. Ich wohne in Warschau.  

      Hier wohnen viele Juden.  

      Meine Eltern haben mich Felka genannt. Sie sagen,  

      "so heißt ein Mädchen, das glücklich ist."  

      Ich bin auch glücklich. Meistens.  

      Am glücklichsten bin ich, wenn ich zeichne.  

      Dann vergesse ich die ganze Welt.  

  1909            

  Hallo, mein Name ist Felix. Heute habe ich Geburtstag.      

  Meine Eltern haben mir einen schönen Blechkasten      

  mit 36 Buntstiften geschenkt.      

  Die Stifte leuchten.      

  Wir leben in einem großen Haus. In Osnabrück.      

            1909  

      Meine Mutter schimpft mit mir: Ich soll in der Küche helfen.  

      Sie schimpft auch mit meinem Vater, weil ich keine  

      gute Tochter bin. Gute Töchter helfen in der Küche  

      und wollen alles lernen: Wie man kocht und wie man alles  

      für Schabbat vorbereitet. Mein Vater ist sanft und leise:  

      "Sie hat doch andere Gaben", sagt er. Meine Mutter lächelt und  

      dreht sich schnell weg. Aber ich habe es gesehen.  

  1910            

  Heute habe ich gehört, wie meine Eltern auf der Straße      

  geflüstert haben: "Philipp, du mußt dem Jungen sagen,      

  daß er die Leute nicht so anstarren darf. Das gehört      

  sich doch nicht." Und mein Vater hat zurückgeflüstert:      

  "Rahel, lass ihn gucken. Er sieht mehr als Du und ich.      

  Er merkt sich die Menschen für seine Stifte."      

  Das gefällt mir.      

            1911  

      Ich habe meine Eltern gefragt, was wir eigentlich sind.  

      Wir sind Juden, wir sind Polen und in Warschau herrschen die  

      Russen. Also? Und mein Vater hat es mir erklärt: "Wir werden  

      immer Juden sein, Felka, wir werden immer polnische  

      Juden sein, aber russische Untertanen, das werden wir  

      nicht immer sein. Aber das letzte darfst Du nirgendwo sagen,  

      nur mit uns zu Hause."  

  1911            

  Wir haben auch einen schönen Tannenbaum. Papa hat ihn      

  gekauft. Wilhelm von gegenüber hat mich auf der Straße      

  angebrüllt "Juden dürfen gar keinen Weihnachtsbaum      

  haben, weil sie den Herrn Jesus umgebracht haben."      

  Mama sagt: "Halt Dich von dem Bengel fern, sein Vater      

  ist der größte Antisemit in unserer Straße." Vater brummt:      

  "Antisemit, ein Hornochse ist der, dumm und dunkel."      

            1912  

      Flugs aus der Wohnung unter uns packen alles ein.  

      Kisten und Körbe. Sie gehen übers Meer nach Amerika. Viele  

      Juden wollen nach Amerika. Warum, habe ich meine Mutter gefragt:  

      "Was ist anders in Amerika?" Dort sollen alle Menschen gleich  

      und frei sein und es soll keinen Haß unter den Menschen geben,  

      hat meine Mutter erklärt. Auch kein Haß gegen uns? Nein, Felka,  

      auch kein Haß gegen uns. Aber ich finde Warschau schön.  

      Ich will nicht weg.  

  1912            

  Abends wenn Vater aus dem Geschäft nach Hause kommt,      

  will er erst die Schulaufgaben von meinem Bruder und      

  mir sehen und dann, was ich tagsüber gezeichnet habe.      

  Er lobt mich und er erklärt, was ihm nicht gefällt.      

  Später holt er das große Buch aus dem Regal: "Schau Felix,      

  van Gogh, er ist der Gipfel. Da mußt du immer wieder      

  hinaufklettern, wenn Du wirklich ein Maler werden willst.      

  Immer wieder versuchen!" Ab jetzt darf ich mir das Buch selber holen.      

            11. Oktober 1913  

      So, jetzt habe ich es Papa und Mama gesagt: Ich will  

      Malerin werden. Zum ersten Mal habe ich es ausgesprochen.  

      Papa lächelt traurig: "Mädchen studieren nicht, Felka.  

      Nicht in dieser Welt und nicht in dieser Zeit."  

      Mama schüttelt nur mit dem Kopf und ist wütend über  

      Papa: "Du setzt ihr all diese Flausen in den Kopf" und  

      zu mir sagt sie: "Malerei, brotlose Kunst, davon wird  

      niemand satt und eine Familie schon gar nicht." Aber ich will  

      Malerin werden. Ich werde weggehen und ich werde Malerin sein.  

  11. Oktober 1913            

  Heute waren wir alle zu Jom Kippur in der Synagoge.      

  Papa hat uns ganz fest an der Hand gehalten als der Kantor      

  gesungen hat. Ich muß immer an den Kantor denken.      

  Sein Gesicht ist mit mir nach Hause gegangen. Der      

  Kantor heißt Elias. Papa sagt Elias      

  war ein Prophet, der mit einem Feuerwagen direkt      

  in den Himmel gefahren ist. Deswegen werden bis heute die      

  Lokomotiven feuriger Elias genannt. Und Elias erinnert uns daran,      

  daß wir immer treue Juden sein sollen.      

            29. Juni 1914  

      Die Stadt ist nervös. Ich höre die Menschen auf den  

      Straßen flüstern: "Bald geht es den Russen an den Kragen."  

      Gestern haben sie in Sarajevo den österreichischen  

      Thronfolger und seine Frau erschossen. Papa sagt:  

      "Die Welt schüttelt sich, es wird nichts Gutes dabei  

      herauskommen. Das waren die beiden ersten Toten."  

      Mama umarmt Papa:  

      "Hauptsache wir sind alle zusammen."  

  29. Juni 1914            

  Papa erzählt uns, daß feige serbische Attentäter den      

  österreichischen Thronfolger und seine Frau aus dem Hinterhalt      

  ermordet haben. Beim Abendessen spricht er viel über den Krieg:      

  "Deutschland muß seinen Verbündeten helfen und seine Ehre      

  verteidigen. Jetzt stehen auch wir deutschen Juden fest      

  zu unserem Kaiser und zu unserem Vaterland. Jetzt gibt es keine      

  Unterschiede mehr, jeder muß an seinem Platz seinen Mann stehen,      

  wenn das Vaterland ruft. Auch Ihr, Kinder." Mama sagt nichts.      

            5. August 1915  

      Seit Tagen haben sich die Russen aus Warschau und aus  

      Polen zurückgezogen. Wir hörten das Sprengen der  

      Brücken. Vieles ist zerstört. Trotzdem freuen sich  

      die Menschen. Heute sind die Deutschen auf ihren Pferden  

      in Warschau eingeritten. Ich stand an der Straße: Die  

      Pferde waren sehr müde. Es ist immer noch Krieg.  

      Tausende Soldaten sollen im Westen sterben.  

      Vater hat gesagt, daß viele von den Soldaten  

      nur ein, zwei Jahre älter sind als ich.  

  6. August 1915            

  "So sind wir", ruft Papa, als er aus dem Geschäft kommt.      

  Hurra! Gestern hat unsere Kavallerie Warschau genommen.      

  Der deutsche Soldat und das deutsche Pferd: Für den      

  Kaiser und Hindenburg. Und alle Deutschen in Treue fest.      

  Und mir hat er auf die Schulter geklopft und gefragt:      

  "Kannst Du eigentlich Pferde malen, Felix? Mal Pferde,      

  sie haben es verdient." Mama hat mit dem Kopf geschüttelt.      

            1917  

      Ich habe mit meinen Eltern gestritten: Juden sind  

      rechtlos, nur sterben dürfen wir in den Kriegen – egal  

      auf welcher Seite. Warum kämpfen wir nicht für uns,  

      für unsere Rechte? Vater redet und redet, aber er  

      kämpft nie. Er liest, arbeitet und schläft. Und Mutter  

      liest oder singt in der Küche. Nie ändert sich etwas.  

      Der Krieg ist im 4. Jahr. Die Deutschen herrschen in  

      Warschau, als seien sie schon immer hier gewesen.  

  1917            

  Auf dem Heimweg von der Schule bin ich am Gasthaus      

  „Germania“ vorbeigegangen. Da hat ein Mann die Tür      

  aufgerissen und gebrüllt: „Das ist der Sohn vom      

  reichen Nussbaum. Hau ab, Du Judenbengel oder ich mach      

  dir Beine.“ Ich bin nach Hause gerannt und ich habe      

  geweint. Aber vor unserer Tür habe ich mir das Gesicht      

  abgewischt. „Es ist Krieg und wir müssen alle      

  tapfer sein,“ sagt Papa.      

            März 1918  

      Die Deutschen und die Russen haben einen Waffenstillstand geschlossen.  

      Der Krieg scheint weit weg und ist mir doch ganz nah. Er frißt alles.  

      Es ist nur noch traurig - und entsetzlich. "Was wird daraus noch werden?"  

      Ein Satz aus meiner Lieblingserzählung von Boleslaw Prus. Ich habe Prus  

      oft auf der Nowy Swiat Straße beobachtet, wenn er spazieren ging.  

      Heute werde ich ihn aus der Erinnerung zeichnen: Prus hat nie einen  

      Spazierstock benutzt. Ein alter Mann mit auf dem Rücken verschränkten Händen.  

      Seine Augen leuchteten weit.  

      Meine Lieblingserzählung heißt "Die Welle strömt zurück".  

      In Rußland gibt es auch keinen Zaren mehr. Die Bolschewiken haben ihn getötet.  

  Januar 1918            

  Dauernd essen wir Rüben. Alle in meiner Klasse haben Hunger.      

  Die Erwachsenen haben Angst vor dem, was kommt: Auch die Lehrer      

  brüllen leiser. Der Krieg im Westen muß furchtbar sein.      

  Ich habe Mutter gefragt, ob wir vielleicht in diesem Sommer nach      

  Ostende fahren. Sie war ungehalten: "Frag nicht so dumm, im Krieg      

  verreist man nicht. Man bleibt zu Hause. Ostende ist Feindesland."      

  Der älteste Bruder von Fritz aus der Parallelklasse ist in Frankreich      

  gefallen. Fritz hat in der Pause heimlich auf dem Schulhof geweint. Der      

  Hausmeister hat ihn gesehen und ihm eine Ohrfeige gegeben:      

  "Stolz mußt du sein, du feige Memme."      

            26. Juni 1919  

      Neue Zeiten, ein neues Parlament und eine neue Verfassung wird es auch geben:  

      Polen ist eine unabhängige Republik. Marschall Pilsudski ist ihr Schöpfer. Ein  

      gewaltiger Schnauzbart und eine sehr hohe Stirn. So sieht die Macht aus.  

      Die Menschen liegen ihm zu Füßen. Sie verehren ihn voller Dankbarkeit. Die  

      Nachbarn tuscheln, daß es im Land weiter Pogrome gegen uns Juden gibt.  

      Vater sagt: "Für uns bleibt der Boden heiß. Sie werden uns niemals als wahre  

      Polen anerkennen." Menschen in Amerika haben gegen die Pogrome protestiert.  

      Jetzt soll Polen einen Minderheitenschutzvertrag unterschreiben. Ich habe  

      vor dem Spiegel in meinem Zimmer ein Selbstporträt gezeichnet und darunter  

      geschrieben: "Geschützte Minderheit-bitte am Leben Lassen" Aber niemand lacht.  

  September 1919            

  Alles ist jetzt ganz anders. Wir sind eine Republik. Der Kaiser hat schon      

  lange abgedankt. Vater ist nicht begeistert: "Wir wußten, was wir hatten.      

  Die Neuen müssen erst mal beweisen, daß sie es können. Zu viel Rumgequatsche, zu      

  viel Plebs -und dafür hat man im Felde gestanden." Mutter sagt, er soll abwarten,      

  das seien doch auch anständige Leute. Und in der Firma soll er bloß schweigen      

  mit seinen Launen: "Du bringst doch nur die Angestellten gegen uns auf. Es reicht,      

  wenn du in deinem Kavallerieverein das große Wort führst." Ich möchte gern      

  in den Schachverein. Im Hotel Hohenzollern hat sich einer gegründet. Eva hat mich      

  gefragt, ob sie auch Mädchen aufnehmen.      

  Dann könnten wir doch zusammen hingehen.      

            1921  

      Warschau wird eng. Die Eltern wollen, daß ich bleibe, wo  

      ich bin, wie ich bin und was ich bin: Ihre Tochter. Ich  

      aber bin 22 Jahre alt, erwachsen und ich will gehen, sehen  

      und lernen: Um zu malen zu malen und zu malen. Das wird hier  

      in dieser Watte niemals möglich sein. Gestern habe ich  

      Bilder von einer Paula Modersohn Becker gesehen. Sie hat  

      in einem Verein Berliner Künstlerinnen mit anderen Frauen  

      gezeichnet. So stand es in dem Artikel. Interessant.  

      Berlin ist nicht wirklich weit weg. Kein Meer zwischen Warschau  

      und Berlin. Für Mutter und Vater wenigstens ein beruhigender Gedanke.  

  1921            

  Osnabrück wird eng. Ich will anfangen. Nicht immer      

  nur als "das Talent" zu Hause hocken. Utrillo war      

  auch siebzehn, als ermit der Malerei begonnen hat:      

  Als eigene Persönlichkeit. Dazu dauernd die      

  Diskussionen über Berlin. Berlin ist den Eltern,      

  besonders Mutter,zu schrill, zu verführerisch und      

  zu weit weg. "Hamburg hat doch auch seine Möglichkeiten",      

  sagt Vater. Na gut, Hamburg liegt auf dem Wegnach Berlin.      

  Wir werden sehen.      

            1922  

      Das hat noch gefehlt: In Berlin haben sie Außenminister  

      Rathenau ermordet. "Ein Jude", sagt Mutter mit  

      vorwurfsvollen Augen und empörtem Ton in meine Richtung.  

      "Und da zieht es dich hin? Ich werde vor Sorge vergehen.  

      Meine Tochter allein in diesem Moloch." Ich bemühe  

      mich, nicht hinzuhören. Jeder Tag in Warschau hat  

      mindestens 48 Stunden. Aber ich muß  

      meine Augen offenhalten: Sehen, malen, malen.  

      Alles ist Vorbereitung für den Beginn.  

  1922            

  Gott sei Dank: Adieu Osnabrück. Am Schluß nur Spannungen:      

  Abitur, kein Abitur- "Schon in der Schule keine Disziplin -      

  wie soll das erst gehen, wenn du in der Fremde alleine      

  auf dich gestellt bist?" Es war nicht mehr auszuhalten. Also      

  Hamburg. Die Kunstgewerbeschule ist erst einmal imposant:      

  Ein riesiges Monumentalgemälde von Willy von Beckerath:      

  Die ewige Welle. Alles beginnt, endet, und beginnt:      

  Ich beginne jetzt. Ihr werdet es schon sehen mit der Disziplin:      

  Der Maler Felix Nussbaum.      

            Berlin, den 27. September 1923  

      "Sehr geehrtes Fräulein Platek! Ihre beigefügten  

      zeichnerischen Arbeiten haben uns ganz gewonnen.  

      Wenn Sie Sich denn entschließen könnten, nach Berlin  

      überzusiedeln, wären Sie an der Lewin-Funcke Schule  

      zur weiteren Förderung Ihrer Begabung und zur Begegnung  

      mit Gleichgesinnten herzlich willkommen." Ein Brief aus  

      Berlin. Er kam postlagernd. Die Eltern dürfen nichts wissen.  

      Noch nicht. Wer weiß wann... Ich hatte heimlich Zeichnungen  

      hingesandt: Dort studieren Frauen und Männer gemeinsam:  

      Als Künstler, die das Beste in sich finden wollen. Ich brauche Kritik,  

      andere Menschen, bald... ...Ich lese den Brief immer wieder.  

  1923            

  Am Wochenende fahre ich nach Hause: Es muß      

  Klarheit geschaffen werden. Vater wird es      

  verstehen, er muß es verstehen: In Hamburg die      

  Künste - die reichen Pfeffersäcke kaufen Bilder      

  für ihre Salons. Alle wollen entdeckt werden:      

  Rein in die Villen, ran an den Zaster. Da hängt man      

  an der Wand wie tot. Nichts atmet heftig, nichts      

  stürzt heraus ins Offene. Der Wind weht fort:      

  Es kann nur Berlin sein. Es muß Berlin sein.      

            1924  

      Nun ist alles entschieden und alles gesagt:  

      Mutter läuft mit verheultem Gesicht durch Warschau  

      und erzählt allen und jedem, daß ich sie und Vater  

      verlasse: Keine gute Tochter, die heiratet, nein,  

      ein undankbares und egoistisches Geschöpf. Sie sagt  

      es nicht, aber ich spüre, daß sie es so empfindet.  

      Vater ist traurig, sehr traurig, aber er will mein  

      Glück, so wie ich mein Glück will. Mutter will,  

      daß ich so bin und werde wie sie. Ich liebe beide  

      sehr. Auch ich bin traurig. Ich hasse diesen Abschied  

      aus ihrer und meiner Welt. In einer Woche reise ich nach Berlin.  

  1924            

  Berlin atmet hastig und laut. Jeder will      

  vom Leben abbeißen. Man kann den Kopf gar nicht      

  so schnell drehen, wie die Ohren wollen. Am      

  Abend sind die Augen übervoll. Und was male      

  ich? Ein Blumenstillleben. Und was spaziert      

  in meinem Kopf? Ein Selbstbildnis - als Junge      

  mit meiner geliebten Baskenmütze, ein Geschenk      

  der Eltern. Anfangs habe ich sie gehaßt, sie war      

  mir zu affig. Berlin: Ich laufe zu mir zurück:      

  Zum Festhalten.      

            1925  

      Berlin reißt mich mit jedem Tag weiter von  

      Warschau fort. Die Menschen an der Schule sind  

      mir nah und fern: Tagsüber ein ungeheurer Eifer,  

      kurze, tiefe Sätze im Gespräch. Alle wollen die  

      Welt in ihre Hände nehmen, die Kunst bestimmt ihr  

      Leben total und abends stürzen sie wie Freigelassene  

      in die Nacht, die hier in Berlin wie ein anderer  

      Kontinent leuchtet und lockt. Mein Lehrer heißt  

      Ludwig Meidner. Er malt und schreibt. Heute sagte  

      er zu mir: "Sie müssen das Gewohnte überwinden,  

      Fräulein Platek, wenn sie ein Haus mit Fenstern  

      malen, muss man aus den Fenstern hören,  

      was die Menschen sich drinnen erzählen,  

      wie sie schreien, weinen und lachen. Ihre Blicke  

      und ihre Bilder müssen durch die Wände gehen."  

  1925            

  Nachmittags, wenn ich mein Pensum und meine      

  Klassen an der Akademie hinter mir habe, besuche      

  ich manchmal die private Malschule des Malers      

  Lewin-Funcke in der Kantstraße. Männer und      

  Frauen arbeiten gemeinsam. Das ist eine ganz      

  eigene Atmossphäre. Lebendiger, mehr dem      

  Eigentlichen zugewandt, nicht so professoral und      

  offiziell. Und keine Konkurrenz: Alle verfolgen      

  und betrachten, was die anderen machen mit      

  Interesse und Offenheit. Keine Verdikte, die Daumen      

  oben. Kritik, die Mut macht. Ich sauge das alles in      

  mich hinein. Seit Wochen beobachte ich heimlich eine      

  junge Polin: Ihr Gesicht bei ihrer Arbeit - zutiefst      

  faszinierend. Ich weiß nicht einmal wie sie heißt.      

            1926  

      Ich bin nicht nach Berlin gekommen, um mich  

      zu verlieben. Hier gibt es einen, der ständig  

      zu mir her starrt. Gott sei Dank kommt er meist  

      nur nachmittags. Offenbar ein verwöhntes  

      Bürgersöhnchen, etwas aufgeblasen. "Aus gutem Hause"  

      nennen sie das hier. Aber mit der Malerei und  

      der Kunst soll es ihm ernst sein, sagen die  

      Kolleginnen und Kollegen. Er heißt auch noch  

      Felix. Hauptsache der Mensch läßt mich in Ruhe.  

  1926            

  Meine ganzen Erdentage und alle Bilder, die      

  jemals durch die Augen hindurch in meinen Kopf      

  spaziert sind, haben sich ebenfalls in Berlin      

  niedergelassen. Sie geben keine Ruhe: Ich      

  male Mutter, ich male Vater und auch Elias,      

  der Kantor der Synagoge in Osnabrück, ist      

  zurückgekommen und klopft an die Tür: Yom Kippur      

  mit den Eltern in der Synagoge, unvergessen und      

  unzertrennlich. Die ernste Polin heißt Felka.      

  Ein Kollege hat meine ständigen Blicke hin zu ihr bemerkt:      

  "Felix sucht Felka", seitdem in den Ateliers bei      

  Lewin Funcke ein geflügeltes Wort.      

            23. Mai 1927  

      Berlin taumelt im Lindbergh Fieber. Verzückt,  

      als seien sie alle dabeigewesen: Allein über  

      dem unendlichen Atlantik. Ich denke an Ikarus:  

      Sein neugieriger Blick ins Unendliche, in die  

      Tiefen, die Höhen des Alls. Selbstvergessen bis  

      zum Ende. Mein Blick auf die leere Leinwand:  

      Diese unendliche Angst der weißen Fläche nichts,  

      aber auch gar nichts hinzufügen zu können.  

      Fliegen gelingt nur selten, ist hart erarbeitet  

      und doch immer ein Geschenk. Und: Ich habe mich  

      breitschlagen lassen: Felix, der Starrende, hat  

      mich für heute Abend zum Essen eingeladen.  

      Sollen sie tuscheln. Der Mai...  

  23. Mai 1927            

  Der Mai: Ich feile an meinem Selbstbildnis      

  mit grünem Hut- selbstsicher, etwas verwegen,      

  etwas auf der Suche. Bevor ich mich endgültig      

  zum Narren gemacht hatte, habe ich sie      

  angesprochen und für heute Abend eingeladen:      

  Essen und dann Variete. Gott sei Dank kam      

  Vaters Scheck für Juni gerade zur rechten Zeit.      

  Langsam, Felix, langsam, sage ich den ganzen      

  Tag zu mir selbst: Nicht zu dick auftragen,      

  immer schön bescheiden: Sie hält mich sowieso      

  für ein verzogenes Bürschchen, das hat mir ein      

  Kollege zugeflüstert. Sie ist älter als ich:      

  Wie aufregend. Sie ist so ernst, so wunderbar,      

  so schön. Der Mai...      

            April 1928  

      Ich bin immer noch verliebt: Felix ist klug  

      und verzogen, zärtlich und eigensinnig. Er  

      rollt seine Welten und seine Geschichte vor  

      mir aus: Das mußt du kennenlernen, das mußt  

      doch wissen... Von mir, von Polen, von den  

      Juden in Polen weiß er fast nichts: Er  

      staunt mich an und fällt mir ins Wort,  

      wenn ich zu lange darüber spreche. Ich soll  

      seine Eltern kennenlernen. Das scheint mir  

      kein guter Gedanke. Noch nicht. Wir beide  

      malen wie verzaubert. "Da kommen die Schwebenden",  

      sagen sie im Atelier. Wir lächeln.  

  April 1928            

  Vater hat angerufen. Er brüllt ins Telefon:      

  "Hipp Hipp Hurra, wir können es auch.": Die      

  erste Atlantiküberquerung mit dem Flugzeug      

  von Ost nach West. "Na siehste, mein Junge,      

  Deutschland ist wieder da." Unverbesserlich,      

  der alte Knabe. Felka ist wunderbar, so fremd,      

  so ganz anders. Wir lieben uns, wir reden und      

  reden. Sie will alles über mich wissen. Ich      

  arbeite mit ganz neuem Schwung, alles bricht      

  aus den letzten Jahren hervor: Landschaften,      

  Reisen, Menschen. Felka, die Zauberin.      

            1929  

      Viel Arbeit in Felix neuem Atelier. Schön  

      nahe des Kurfürstendamm gelegen. Wieder  

      ein großer Schritt für ihn. Und für mich?  

      Manchmal befürchte ich, daß ich mich zu  

      sehr auf seine Welt einlasse und die meine  

      zu klein wird. In diesen Tagen sehe ich  

      Berlin mit neuen Augen: Der Haß gegen die  

      Juden wird lauter und alltäglicher. Die  

      Eltern planten einen Besuch: Ich habe  

      ihnen abgeraten. Es werden auch leisere  

      Zeiten kommen.  

  1929            

  Auf in die Welt der Nibelungen: Ich habe ein      

  Atelier in der Xantener Straße gemietet.      

  Das wird den Eltern gefallen: Schöne      

  deutsche Adresse, Drachen inclusive. Heute      

  sehen die Drachen allerdings aus wie Zeitungen:      

  Seit Januar kann man auch in Berlin den Völkischen      

  Beobachter kaufen, in dem Herr Hitler und seine      

  Konsorten täglich ihr Feuer gegen uns speien.      

  Felka ist ängstlich und beunruhigt. Vater am      

  Telefon: "Hitler-ein Spuk, lächerlich."      

            August 1929  

      Felix ist fast närrisch wegen meiner  

      neuen Baskenmütze. Er malt mich auf der  

      Stelle. Und wieder geschieht das Wunder:  

      Als Mensch, als Mann weiß er immer noch  

      wenig von dem, was mich im Innersten  

      bewegt. Aber als Maler sieht er alles:  

      Wie unsicher ich bin, wie ich mich sperre  

      gegen die Kommode seiner Welt, wie ich  

      mir Mühe gebe, stark zu sein, auf Distanz  

      bedacht, wie traurig ich bin in der Fremde.  

  August 1929            

  Felka hat sich gestern eine weiße Baskenmütze      

  gekauft. Ich denke an meine Baskenmütze, die      

  ich als Kind so geliebt habe und porträtiere      

  Felka, wie sie der Welt gegenübersteht, ihr      

  entgegentritt - eine eigene Welt, ganz für sich.      

            1930  

      Die Deutschen bleiben mir fremd. Die  

      Straße bebt, Hungernde Bettler an vielen  

      Ecken. Aber viele -auch wir- leben und  

      tun als ob. Felix und ich -wir beschweigen  

      uns. Jedes offene Wort gälte uns als  

      Kapitulation vor unserer Angst. Ich spüre  

      die seine, er spürt die meine, wir halten  

      uns fest -schweigend. Ich male Blumen.  

      Was wird noch werden?  

  1930            

  Eigentlich sollte ich zufrieden sein. Das Atelier,      

  das Leben mit Felka, der Erfolg, die Anerkennung      

  - ich bin ein "bißchen" bekannt in Berlin. Wie      

  habe ich darauf gewartet. Aber über allem liegt      

  der Schatten des Elends so vieler angesichts der      

  Weltwirtschaftskrise und das Gebrüll der elenden      

  Nazis. Vater will nichts sehen, Felka verschließt      

  die Angst in ihrem Herzen, aber sie zittert an      

  jedem Tag. Ich male einen Pessimisten, die Sonne      

  verdunkelt, der Wind kommt auf und wird zum Orkan.      

            1931  

      Felix sucht seinen Platz. Er greift immer  

      mehr zu. Er macht große Fortschritte,  

      seine Welt weitet sich immens. Und doch  

      ist er immer zu Hause geblieben, während  

      ich wirklich ins Neue gegangen bin. Ob ich  

      dafür zu viel bezahlt habe, bezahle? Wer  

      weiß. Meine Malerei geht um mich herum.  

      Gestern blieb Felix vor meiner Staffelei  

      stehen. Sein Blick war erst neugierig,  

      hellwach. Fast alarmiert. Was wächst da?  

      Ich genoß es.  

  1931            

  Es ärgert mich immer mehr, wie die Malergreise      

  über uns die Nase rümpfen. Abschätzig und      

  hochmütig: Was sind sie doch für wunderbare      

  Vertreter der großen Künste: Mit Frack und      

  Zylinder -ohne Esprit, dunkel,dunkel. Aber ich      

  lache nur. Und male sie: Den Pariser Platz mit      

  der Akademie und dem ganzen Stumpfsinn. Obendrüber      

  trohnt Liebermann, das alte Schlachtroß: Aber der      

  hat wenigstens noch Feuer im Pinsel. Das muß      

  ich neidlos anerkennen.      

            1932  

      Felix der Launische. Statt sich über die  

      Anerkennung und ein Stipendium für Italien  

      zu freuen mault er im Atelier herum. Wie  

      selbstverständlich geht er davon aus, daß  

      ich mit ihm reise. Italien: Noch weiter  

      weg von den Eltern, von Warschau. Ich  

      denke oft an sie und habe Sehnsucht nach  

      ihnen. Und dennoch freue ich mich auf  

      Neues. Nie hätte ich gedacht, Italien zu  

      sehen, in Italien zu leben.  

  1932            

  Adieu Deutschland. Habe ein Stipendium für die      

  Villa Massimo in Rom erhalten. Italien      

  interessiert mich eigentlich schon längst      

  nicht mehr. Hoffentlich werde ich nicht      

  kitschig da unten. Felka geht mit. Sie freut      

  sich weit mehr als ich. Nun denn: Italien.      

  Das einzig Gute daran: Deutschland für eine gewisse      

  Zeit abzuschütteln. Hier kracht es immer lauter      

  im Gebälk.      

            Januar 1933  

      Felix- ein Schatten seiner selbst. Alle  

      unsere Bilder sind in Berlin verbrannt.  

      Die Wohnung wurde angezündet. Welcher  

      Haß. Was bleibt von unserm Leben?  

      Gut in Italien zu sein. Ich könnte  

      Deutschland nicht ertragen. Blauer,  

      weiter Himmel aber das Elend klebt an  

      unseren Schuhen. Ich tröste Felix, er  

      versinkt im Unglück.  

  Januar 1933            

  Ich bin wie zerstört. Das Atelier in Berlin      

  ist ausgebrannt. Wahrscheinlich Brandstiftung:      

  Brennt die Welt des Juden Nussbaum nieder! Alle      

  Bilder, die dort zurückgeblieben sind, vernichtet:      

  Mein Leben - ganz leer. Dazu die Nachrichten aus      

  der Heimat: Hitler ist Reichskanzler, er ist jetzt      

  Deutschland. Welch ein Elend. Ich habe Angst um      

  die Eltern, die diesem Haß nun noch direkter      

  ausgesetzt sind.      

            15. Mai 1933  

      Ich hatte so sehr gehofft es würde nichts  

      schlimmes mehr kommen: Heute wurde Felix  

      brutal von einem Kollegen in der Villa  

      Massimo niedergeprügelt. Ein neuer  

      Ausbruch des Hasses. Felix mußte ins  

      Krankenhaus gebracht und am Kopf genäht  

      werden. Er sieht entsetzlich zerschunden  

      aus, aber er ist ganz kalt : Er will  

      keine Polizei, kein Aufsehen, er  

      befürchtet negative Folgen für uns und  

      vor allem für seine Eltern, die in  

      Deutschland sind. Die Angst legt  

      sich auf uns, sie ist überall.  

  15. Mai 1933            

  Auseinandersetzung mit Merveldt. Der feine      

  Herr Graf schlägt zu bis ich am Boden liege      

  und blute. Deutscher Uradel, der dem Juden      

  seinen Platz zuweist. Ich habe über das, was      

  Vater immer noch Heimat nennt, keine Illusionen      

  mehr. Diese Villa ist auch Deutschland.      

  Siehe oben.      

            Januar 1934  

      Ein Brief von den Eltern: Ich denke an  

      die Januar-Kälte in Warschau, man kann  

      den Atem der Menschen sehen, wenn sie  

      durch die Straßen hasten, um schnell  

      nach Hause zu kommen. Den Eltern geht es  

      gut -oder sie schreiben nichts  

      gegenteiliges. Mir soll es auch gut gehen,  

      das wünschen sie. Geht es mir gut? Hier ist  

      die Kälte innerlich und man sieht den  

      eigenen Atem nicht.  

  Januar 1934            

  Nachdem man uns im vergangenen Mai aus      

  der Villa Massimo entfernt hatte, war ich      

  glücklich, auch dieser Drachenburg entkommen      

  zu sein. Jetzt Rapallo: Das Malen geht mir gut      

  von der Hand und ich bin eigentlich guten Mutes.      

  Nur der liebe, dumme Vater: Im Oktober hat ihn      

  sein Kavallerieverein ausgeschlossen. Er dachte      

  wirklich, er gehöre dazu. Jetzt schickt er mir      

  eine Art Liebes- und Abschiedsgedicht an seine      

  guten Kameraden, die ihn so schändlich behandelt      

  haben- nach 34 Jahren Mitgliedschaft.      

  Der alte Jude -auch entfernt.      

            Mai 1934  

      Felix Eltern in Rapallo eingetroffen.  

      Unter ihrem Unglück sind die Vorbehalte  

      gegen mich -zu alt, keine deutsche  

      Jüdin- zusammengefallen. Der Vater  

      schmal, gebeugt aber nicht gebrochen. Die  

      Mutter müde von der alltäglichen Lebensangst  

      und dem Haß daheim in Osnabrück. Wir  

      umsorgen sie. Ich bin froh, daß meine  

      Eltern in Polen geborgen sind. Was  

      geschieht mit den Deutschen, diesen ewigen  

      Vorzeigepuppen für Fortschritt, Kunst und Kultur?  

  Mai 1934            

  Die Eltern hier bei uns. Dem Himmel sei Dank.      

  Vater ist tapfer: Er will sich sein Leid,      

  seine tiefe Verletzung nicht anmerken lassen:      

  Diese Bande, das ist nicht Deutschland. Er      

  betont es immer wieder mit Ausrufezeichen.      

  Ja, es gibt auch anständige Deutsche. Ich      

  pflichte ihm bei, um ihn zu beruhigen. Wir      

  trinken die klare Luft der Adria, wir baden im      

  Licht. Aber wie wird es weitergehen      

  mit uns allen?      

            Juni 1935  

      Ostende, eine neue Sprache, ein neues  

      Land. Eine neue Heimat? Für Felix ist  

      vieles vertraut, umso tiefer empfindet er  

      den Unterschied zu unserer heutigen  

      Situation. Es ist schwer, sich gegenseitig  

      zu stützen, wenn der eigene Mut schmilzt,  

      wie Schnee in der Sonne. Trost finden wir  

      in der Arbeit. Doch wovon sollen wir leben?  

  Juni 1935            

  Und wieder Ostende. Die Kindheit. Die Ferien      

  mit der Familie. Erst jetzt verstehe ich, wie      

  unbeschwert wir damals waren, wie das Leben      

  mich verwöhnte. Heute bin ich auf der      

  Flucht, wir wechseln von Pension zu Pension.      

  Felka und ich haben ein Touristenvisum, aber      

  Touristen sind wir schon längst nicht mehr.      

  Wir sind Flüchtlinge, die nach Schutz und      

  Sicherheit suchen. Und wir malen dennoch.      

            1936  

      Immer wieder die Sorgen um die gültigen  

      Papiere, um das nötige Geld.  

      Ich werde jetzt versuchen "Gängiges" zu  

      malen, Blumen und andere schöne Dinge.  

      Bilder, die sich verkaufen lassen.  

  1936            

  Seit Tagen beobachte ich einen Scherenschleifer,      

  der mit seinem Wagen durch Ostende zieht.      

  Fast beneide ich ihn ob seiner Sicherheit:      

  Er ist zu Hause, er hat seinen Wagen, er      

  wird gebraucht von den Menschen. Felka und      

  ich - wir werden durch die Zeit geschliffen.      

  Ich stehe jetzt häufig vor dem Spiegel, Selbstporträts:      

  Wer bist du?      

            Oktober 1937  

      Wieder ein neues Kapitel: Brüssel, rue  

      Archimede. Die Eltern in Warschau und Osnabrück  

      werden sich an eine neue Adresse gewöhnen  

      müssen. Wir alle müssen uns an vieles gewöhnen  

      in diesen Jahren. Die Welt verdüstert sich immer  

      mehr. Felix hat mich gefragt, ob wir heiraten:  

      Er war immer gegen die Ehe. Jetzt dieser  

      Gesinnungswechsel: Muß ich mich  

      bei Hitler bedanken?  

  Oktober 1937            

  Die Deutschen in Spanien. Sie zerbomben      

  Guernica. Wann werden sie hier sein?      

  Hitler wird nach ganz Europa greifen, da      

  bin ich mir sicher. Krieg ist nur eine      

  Frage der Zeit. Der Krieg gegen die Juden      

  hat längst begonnen. Felka und ich werden      

  heiraten. Aus Angst. Um uns zu wehren.      

  Aus Liebe.      

            September 1938  

      Die Gier der Deutschen wächst. Erst hat der  

      Führer Österreich geschluckt, jetzt greift er  

      nach Prag. Er kommt Polen, er kommt den Eltern  

      in Warschau näher. Meine große Sorge ist, daß  

      auch sie in seine Hände fallen - wie die  

      Eltern von Felix in Osnabrück.  

  1938            

  Don Quichotte spukt mir im Kopf herum und      

  will in die Hände. Ich muß Farben kaufen.      

  Der ewige Kampf ums Geld. Das sind unsere      

  Windmühlen. Felka ist mein Sancho Pansa. Sie      

  umsorgt und leitet uns und hält viele      

  Widernisse des Alltags von mir fern.      


  27. Mai 1939            

  Gott sei Dank, die Eltern sind in Amsterdam      

  in Sicherheit. Vater hatte sich bis zum      

  letzten Tag gesträubt, Deutschland zu      

  verlassen: "Ich bin kein Deserteur, ich      

  werde niemals fahnenflüchtig. Ich bleibe      

  meinem Volke treu." Felka hat am Telefon auf      

  ihn eingeredet: "Aber es ist doch nur für eine      

  Weile. Bald ist der ganze Spuk vorbei und      

  ihr fahrt wieder nach Hause."      

            3.September 1939  

      Keine Verbindung zu den Eltern in Warschau.  

      Die Deutschen in Polen eingefallen. Der Krieg.  

      Ich bin sprachlos und panisch vor Angst. Sind  

      Mutter und Vater verloren? Wann wird Hitler  

      sich nach Westen wenden? Wo sind wir dann  

      sicher? Wohin? Felix versucht mich zu  

      trösten, aber beide wissen wir es besser.  

  Mai 1940            

  Hitler beginnt den Krieg im Westen.      

  Er greift nach uns. Wird Belgien standhalten      

  können oder ebenso überrannt werden wie      

  Polen vor wenigen Monaten? Ich male      

  gegen die Zeit.      

            Ende Mai 1940  

      Was für ein Hohn. Die belgische Polizei hat  

      den jüdischen Flüchtling Felix Nussbaum als  

      reichsdeutschen Bürger verhaftet, der für  

      Belgien eine Gefahr darstellt. Mir wurde  

      gesagt alle deutschen Männer werden in einem  

      Lager interniert. Wo das Lager ist- ich  

      weiß es nicht. Keine Nachricht, nicht von  

      den Eltern, von Felix. Ich bin allein.  

  Juli 1940            

  Zusammengepfercht hinter Stacheldraht.      

  Das Lager heißt Saint Cyprien. 18 Tage hat      

  man uns durch ganz Frankreich      

  hierher in den tiefen Süden getrieben.      

  Dreck, Ungeziefer, es stinkt nach Angst      

  und ungeheurer Hoffnungslosigkeit.      

  Einige beten in der Lagersynagoge. Ich      

  sehe sie hinwanken in ihren Gebetsmänteln.      

  Hört Gott zu? Hat meine Nachricht Felka      

  erreicht?      

            August 1940  

      Felix steht vor der Tür. Er hatte bei dem  

      französischen Lagerkommandanten einen  

      Antrag zur Rückführung ins Deutsche Reich  

      unterschrieben. In Bordeaux ist ihm die  

      Flucht gelungen. Er konnte sich nach Brüssel  

      durchschlagen: Tagsüber versteckt,  

      des Nachts marschiert. Seine Augen liegen  

      tief in ihren Höhlen, er ist ausgehungert  

      und sehr schwach.  


            August 1941  

      Ich stehe vor der Staffelei: Und sehe,  

      dass der Pinsel in meiner Hand zittert.  

      Ich zittere, weil wir ausgeliefert sind:  

      An die Angst, an die Grausamkeit,  

      an die Deutschen.  

  August 1941            

  Ich bin im Stacheldraht geblieben.      

  Die Deutschen engen unser Leben immer      

  mehr ein. Es wird gemunkelt, dass es im      

  Osten Lager gibt, wo sie uns alle hinbringen.      

  Noch lassen sie uns warten. Noch tragen      

  wir hier keinen Stern. Ich beobachte sie und      

  ich male: Als Zeuge ihrer Mörderzeit.      

  Felka ist sehr schwach.      

            August 1942  

      Erst im Mai der Stern, jetzt beginnen die  

      Deportationen in den Osten. Nach Polen?  

      Was machen sie dort mit den Menschen, mit  

      uns? Wann stehen wir auf der Liste? Wir werden  

      nicht gehen. Felix sucht für uns ein Versteck.  

      Es ist lebensgefährlich uns zu verstecken.  

      Wer wird diese Gefahr auf sich nehmen? Heute  

      früh sah ich auf der Straße einen Oleander in  

      voller Blüte. Ich trug den Stern nicht.  

  2. Dezember 1942            

  Im Versteck bei Ledel, dem Bildhauer, und      

  seiner Familie. Felka und ich leben mit ihnen.      

  Sie sind selbstverständlich und großzügig. Die      

  kleine Karin schaut mich an: Wer ist dieser neue      

  Onkel Felix? Ich bin Onkel Felix im Versteck, möchte      

  ich sagen und ihr alles erklären. Aber ich schweige.      

  Wie kann das Kind diese Welt verstehen? Ich zeichne      

  lieber Tiere für Karin und erzähle ihr: Onkel Felix      

  hat bald Geburtstag, dann laden wir alle Tiere auf      

  dem Bild ein. Als das Blatt voll ist, sagt die Kleine:      

  Du musst noch signieren. Und ich signiere.      


  März 1943            

  Ledels verlassen Brüssel und gehen in die      

  Ardennen: Dort sei es sicherer, der Krieg nicht      

  so nah. Sie beschwören uns, mitzukommen.      

  Felka aber will in jedem Falle in Brüssel      

  bleiben. "Auf dem Land werden wir      

  auffallen- wir gehören nicht dazu, jeder wird      

  uns anstarren." Ach, meine Felka, denke ich:      

  Wir gehören nirgendwo mehr dazu. Längst      

  nicht mehr. Wir werden die Freunde vermissen.      

  Die kleine Karin weint beim Abschied. Wir alle      

  weinen. Zum ersten Mal in diesem Elend.      

  Wann werden wir uns wiedersehen?      

            März 1943  

      Zurück im Atelier in der Rue Archimede.  

      Der Vermieter hat für uns ein zusätzliches  

      Versteck in einer Mansarde hergerichtet, so  

      daß wir bei Razzien oder Gefahren schnell aus  

      dem Atelier flüchten können und er eine leere  

      Wohnung vorweisen kann. Aber, er legt den  

      Zeigefinger an die Lippen, kein Wort zu  

      irgendjemandem, ganz leise! Und keine  

      Ölgemälde mehr: Der Terpentingeruch  

      könnte uns alle verraten.  


            April 1943  

      Wir zeichnen mit Bleistift, wir malen mit  

      Aquarellfarben. Kein Terpentin! Wir verlassen  

      das Atelier nur für das Allernötigste. Wir sehen  

      uns in der Küche um: Da ist der Schöpflöffel, da  

      steht die Gießkanne für unsere Blumen: Alle müssen  

      sie in die Bilder hinein. Wir sprechen kaum. Wir  

      bemühen uns, nicht zu flüstern. Wir wehren uns –  

      immer leiser werdend – gegen die Angst,  

      wir leben gegen die Zeit.  

  August 1943            

  Ich hielt es ohne das Malen mit Ölfarben nicht      

  mehr aus und habe mir schon im Juli ein anderes      

  Atelier in der Rue General Gatry gesucht: Anonym      

  und hoffentlich unsichtbar. Noch einmal will ich      

  alles berichten. Ich male mich mit dem Judenstern,      

  den ich nie getragen habe und niemals tragen werde.      

  Ich schaue den Mördern ins Gesicht. Felka      

  wartet jedes Mal zitternd auf meine Rückkehr.      

            Dienstag, 18. April 1944  

      Ich sitze im Dunkeln und warte auf Felix.  

      Ich habe das andere Atelier immer gehasst.  

      Jedesmal schüttelt mich die Angst, daß Felix auf  

      der Straße aufgegriffen wird und ich ihn nie  

      wiedersehe. Er öffnet die Wohnungstür und sagt  

      leise in die Dunkelheit: Heute- das war das  

      letzte Bild. Der Tod wird triumphieren.  

      Er sucht meine Hand.  

  20. Juni 1944            

  Sie trommeln an der Tür unseres Verstecks.      

  Jemand muß uns verraten haben. Nach Stalingrad      

  haben wir wirklich gehofft. Aber es sollte nicht      

  sein. Ich stütze Felka während ich die Tür öffne.      

  Sie sollen uns ins Gesicht sehen. Sie sollen      

  uns nie vergessen. Ich habe nur noch einen Wunsch:      

  Auch wenn wir untergehen -      

  lasst unsre Bilder nicht sterben.      

            1. August 1944  

      Im Güterwagen. Seit gestern rollt der Zug  

      Richtung Osten. Wir kauern im Stroh. Felix neben  

      mir. Die Kinder haben Durst und betteln um Wasser.  

      Es gibt kein Wasser mehr. Felix spricht leise mit  

      Herrn Goldberg. Ein kleiner, zarter Mann. Uhrmacher.  

      Immer wieder sucht sein Blick seinen Werkzeugkoffer.  

      "Uhrmacher werden überall gebraucht." Das ist sein  

      Trost. Aber gibt es noch Zeit für uns?  

  2. August 1944            

  Wir sind verschwitzt und zerdrückt. Seit Tagen      

  unterwegs. Wo führt diese entsetzliche Reise hin?      

  Es stinkt erbärmlich. Für die Alten und für die      

  Kinder ist es am schlimmsten. Manche sind tot.      

  Wir haben sie an die Seite geschoben. Felka hält      

  sich tapfer. Jetzt wird der Zug langsamer. Draußen      

  rufen und brüllen Menschen. Sie öffnen die Tür.      

  Das Licht tut in den Augen weh.      

  Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen.